Der Wunsch zu fliegen

SONY DSCZu einem alten weisen Mann kam eines Tages ein Kind und erkundigte sich, ob es fliegen könne. „Jeder, den ich gefragt habe, hat mich ausgelacht und gesagt, fliegen können nur die Vögel, die Flügel haben, oder allenfalls die Engel im Himmel“, sagte das Kind enttäuscht.
Der alte weise Mann  lächelte und erwiderte, auch der Mensch könne fliegen, wenn er nur die Vorschriften beachte.
Das Kind sah ihn ungläubig an.
Der Weise lächelte. „Sag mir, welche Dinge dir gehören und dir viel bedeuten?“
Das Kind begann aufzuzählen: „Mein Fahrrad, mein Fernsehapparat, der PC, die Spielkonsole, meine Möbel, mein Smartphone, meine Bücher, meine Kleidung, mein Aquarium, meine…
„Es ist genug“, unterbrach der Weise das Kind, „hast du auch Wünsche für morgen, wenn du erwachsen bist?“
„Viele!“, rief das Kind. „Zum Beispiel wünsche ich mir ein tolles Auto. Wenn ich groß genug bin, ein schönes Haus, einen Garten, ein…“
„Es genügt“, sagte der weise Mann. „Wärst du bereit, deine Wünsche zu vergessen – nur den einen nicht, nämlich das Fliegen?“
Das Kind schwieg einen Augenblick, es legte die Stirn in Falten und dachte nach. „Nein“, sagte es dann zögernd und leise, „ich glaube nicht, dass ich auf meine Wünsche verzichten möchte. Sie gehören doch zum Leben, und alle haben sie.“
„Ja“, nickte der alte weise Mann, „alle haben sie, und keiner glaubt, auf den Luxus dieser Welt verzichten zu können. Deshalb, mein Kind, deshalb kann deine Seele auch nicht fliegen…“
Wer fastet, wer verzichtet, lernt fliegen!

Eine Geschichte von Hermann Mülhaupt ausgesucht von Bernd Schmidt.

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